Ende des Jahres 1944 im November kam eine Familie aus Estland zu uns. Sie kamen ganz privat, sie wurden von keiner Organisation geschickt. Es waren drei Personen, der Vater, der kein Wort deutsch sprach, eine Mutter, die gegenüber dem Vater sehr jung war und deutsch fließend sprach und einer Tochter in meinem Alter, die ebenfalls gut unsere Sprache beherrschte. Sie flüchteten vor der Front der Roten Armee und hofften, bei uns in dem kleinen Dorf in der Mitte Deutschlands das Ende des Krieges zu überstehen. Sie wohnten in einem Zimmer mit zwei Betten und anderen Möbeln von uns. Sie kamen nur mit zwei Koffern an, hatten alles Hab und Gut in Estland gelassen. Das ist auch nicht so richtig, Frau Janik, so hieß die Familie, hatte ein Säckchen Goldmünzen bei sich. Mit diesem Schatz sind sie bis in unser Dorf gekommen, wahrscheinlich bezahlten sie ihre Unterkunft bei uns auch mit Goldmünzen. Das Mädchen Tina wurde meine Freundin. Von ihr lernte ich Basteln mit Schere und Papier. Es wurden Papierpuppen ausgeschnitten. Wenn man Buntstifte hatte, wurden diese Papierpuppen auch noch bemalt. Dann mussten Kleider, Hüte, Schuhe und alle Kleidungsstücke, die die Puppe so braucht ebenfalls ausgeschnitten werden. Es war ein neues Spielzeug, das bei uns auf dem Dorf noch nicht bekannt war. Deshalb war es auch für uns so interessant. Mancher kalter Wintertag wurde nun mit Ausschneiden und Anziehen der Puppen aus Papier zugebracht. Im Winter hielten wir uns, hauptsächlich die Kinder, in der ehemaligen Gaststube auf. Es war warm und wir hatten fünf Tische für uns. Die Freundin aus Estland brachte neue Kartenspiele und andere für uns neue Geduldspiele mit. Auch sang sie uns viele Lieder vor, die Melodien kannten wir, aber den Text verstanden wir natürlich nicht. Es waren estnische Volkslieder. Sie brachte sie uns bei, wir nahmen sie gern an und sangen ihr im Gegenzug unsere deutschen Kinderlieder vor. Der Winter ging so, ohne für uns große Ereignisse zu hinterlassen, vorbei. Weihnachten wurde mit allen Bewohnern des Hauses gefeiert. Adolf holte wie jedes Jahr einen großen Weihnachtsbaum aus unserem Wald, das Puppenhaus wurde wieder aufgestellt und eingerichtet. Meine Mutter machte für alle Kartoffelsalat. Von der immer näherrückenden Front bekamen wir Kinder nichts mit. Im Frühjahr 1945 war dann täglich Fliegeralarm. Das hieß, wir mussten alle in einen gewölbten Keller außerhalb des Wohnhauses gehen. So hatte es der Ortsbauernführer angeordnet.
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