Der Sommer 1945 war heiß und arbeitsreich. Mit 9 Jahren hatte ich schon feste Aufgaben zu erledigen. Ich hatte die Gräber auf dem Friedhof zu pflegen, den Garten zu jäten, die Straße und den Hof sonnabends zu kehren und natürlich auf meine kleine Schwester aufzupassen. In der Erntezeit war das Frühstück oder Vesper auf das Feld zu bringen. Alle Besorgungen hatte ich zu erledigen. Zum Beispiel mußte ich nach Neustadt mit dem Fahrrad fahren und bestimmte Artikel zu kaufen, die es bei uns im Raiffeisenladen nicht gab. Es war nicht schwer zwischen den Pflichten noch Zeit zu haben, um im Fluß zu baden, im Winter Schneeschuh zu fahren oder zu rodeln. Die Zeit, um mit den Puppen zu spielen, war vorbei. Es fehlte mir auch die Anregung, die ich von den Kindern erhielt, die im Krieg bei uns wohnten. Am meisten fehlte mir Tina, das Mädchen aus Estland, sie war meine Freundin. Ich habe viel von ihr gelernt, das gefiehl mir sehr. Immer war ich auf Suche nach neuen Anregungen und neuen Spielen aus. Zu den Büchern, die bei uns auf dem Hausboden in Kisten verstaut waren, hatte ich keinen Zugang. Also las ich alles was zufällig in unser Haus kam. Es war bei uns auf dem Dorf nicht üblich, sich lesend mit einem Buch in die Ecke zu setzen. Bücherlesen wurde als nutzlose Kunst abgetan, dazu hatte man keine Zeit. Aus diesem Grund blieb sehr lange der Gang zur Toilette meine Lesestunde am Tag. Toilettenpapier gab es nach dem Krieg nicht, die Tageszeitung wurde zu Rechtecken geschnitten und ins "Häuschen" gelegt. Weil die Zeitung für 6 Personen nicht reichte, lag immernoch ein altes Buch mit dünnen Seiten zum Gebrauch bereit. Bevor ich die Seiten benutzte, las ich sie durch, egal, was da stand; ein paar Seiten Kunstgeschichte, eine Abhandlung über Haltbarmachung von Wurstwaren bis zu Gedichten. Die Toilette war außerhalb des Wohnhauses, natürlich ohne Wasserspülung, aber ein großes "Örtchen". Es war so geräumig, dass die Schar der Freundinnen immer mit konnte, wenn einer auf Toilette mußte. Es hat uns überhaupt nicht gestört. Es zeigte sich immer mehr ein fühlbarer Mangel an alltäglichen Kleinigkeiten, wie Hefe zum Kuchenbacken oder Seife zum Händewaschen oder Streichhölzer. Diese Sachen waren plötzlich nicht mehr in unserem Raiffeisenladen zu haben. Anders war es in Neustadt, dort konnte man diese Kleinwaren kaufen. Dass in Neustadt die Amis waren und bei uns in Heubisch die Russen, haben wir nicht mit dem unterschiedlichen Angebot in Zusammenhang gebracht. Schließlich waren wir "Selbstversorger". An Grundnahrungsmittel war natürlich kein Mangel. Wenn das Ablieferungssoll erfüllt war, konnte für die Familie und die Verwandten gesorgt werden. Die große Zeit der Bauern kam, sie wurden wieder begehrte Verwandte auf dem Land. Man erinnerte sich wieder an die lieben Tanten und Onkels und suchte sie gerne auf. Die große Not, wie sie in den Städten anzutreffen war, haben wir nicht erlebt. Sonnabends früh mußte ich regelmäßig mit dem Fahrrad nach Neustadt fahren, um für 10 Pfennige Hefe zu kaufen, denn Sonnabends wurde ein großes Blech Hefekuchen gebacken. Dass ich mit meinem Fahrrad regelmäßig eine Zonengrenze überfuhr, kam mir im Herbst 1945 nicht in den Sinn. Die Russen hatten zwar eine Kommandantur im Dorf, aber von einer Grenzbefestigung oder Abgrenzung war bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts zu merken. Die Menschen betrachteten die russische Besatzung als vorübergehende Erscheinung. Gestärkt wurden diese Wunschvorstellungen auch von Radiosendungen, hauptsächlich vom Sender RIAS aus Berlin, die immer wieder Spekulationen anstellten über die Teilung Deutschlands. Sehr lange hielt sich die Vorstellung der Menschen, dass Thüringen gegen Berlin ausgetauscht werden würde, weil doch Amerikaner Thüringen eroberten, nicht die "Rote Armee". Diese Soldaten hatten keine Sympatien in der Bevölkerung, Vom sozialistischem Wirtschaftssystem hatten wir noch wenig gehört. Aus der russischen Gefangenschaft entlassene Soldaten sprachen allerdings über merkwürdige Zustände in der Sowjetunion. Kein Mensch dachte 1945 daran, dass der sowjetische Sozialismus auch bei uns in Deutschland angewendet bwz. als Wirtschaftssystem eingeführt werden würde. Überraschend für uns Kinder und auch für die ganze Dorfbevölkerung war, dass das Ami-Liebchen I. auch von den Soldaten der sowjetischen Besatzung regen Besuch hatte. In einem vorgegebenen Turnus wurden die Soldaten ausgewechselt. Als Erstes fragten sie uns Kinder, "wo Wohnen I.?" Alle nahmen es als Selbstverständlichkeit hin.
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