Nach Neujahr kam zu uns eine Hausschneiderin. Es war eine junge Witwe mit ihrem Sohn aus einem Nachbarort, die bei uns alle liegengebliebenen Ausbesserungsarbeiten an der Wäsche übernahm. Aus zwei alten Kleidern war ein neues zu schneidern, Flicken waren in die Arbeitskleidung zu setzen, Schürzen zu nähen und vieles mehr. Es gab keinerlei Kleidung zu kaufen, also wurde alles geändert, der Stoff wurde gewendet, neu zugeschnitten und wieder zu einem Mantel oder zur Jacke verarbeitet. Unterwäsche, wie Hemden und Schlüpfer wurden gestrickt, natürlich auch Strümpfe und Pullover. Alles wurde aus alten vorhandenen Sachen gemacht. Wolle lieferten Stricksachen, die nicht mehr paßten. Die Jackenteile wurden einzeln aufgetrennt, die gewonnene Wolle auf ein Brett gewickelt, ins Wasser getaucht, getrocknet , um dann wieder als glattes Wollknäul neu verarbeitet zu werden. Diese Ausbesserungsarbeiten wurden nur im Winter vorgenommen. Alle Frauen und Mädchen halfen dabei. Unsere junge Schneiderin brachte etwas Abwechslung in die langen, grauen Wintertage. Die Nähmaschine stand in der guten Stube, es war gut geheizt, es gab immer zu Essen, der Sohn spielte mit uns. Beide, die Schneiderin und ihr Sohn schliefen in einem der Fremdenzimmer, es hatte fließendes Wasser und ein großes warmes Bett. Eigentlich war es ein friedlicher Winter trotz der Unsicherheit, die die Grenze mit sich brachte. Eines Tages hörten wir ein lautes Streiten unserer Eltern. Türen knallten und wir vernahmen Beschimpfungen auf beiden Seiten. Ängstlich verzogen wir uns in ein entferntes Zimmer, aber das Schreien und Weinen meiner Mutter hörte nicht auf. Am nächsten Tag war die Schneiderin mit ihrem Sohn verschwunden. Meine Mutter hatte sie aus dem Haus gewiesen. Was war der Anlaß des Kraches? Vater hatte mit der jungen Frau ein Verhältnis angefangen und meine Mutter war dahintergekommen. Es wurde eine bedrückende Zeit für meine Schwester und für mich. Wir hassten plötzlich den Vater. Eine angstvolle, unsichere Zeit für uns Kinder begann. Was sollte nun werden? Wir spürten die Spannung zwischen Vater und Mutter sehr stark und bangten um unser sicheres Zuhause. Die Eltern hatten mit sich zu tun und beachteten uns und unsere Ängste nicht. Die einzige im Haus, die uns nach wie vor betreute, war Lieselotte, unser ehemaliges Landjahrmädchen. Sie war inzwischen 17 Jahre alt und ein großes, weiches, schönes Mädchen geworden, blond und zupackend. Sie blieb bei uns in dieser Nachkriegszeit, weil auch ihre Mutter froh war, eines ihrer drei Kinder versorgt zu wissen. Der Vater war gestorben. Lieselotte war unsere Bezugsperson. Am Morgen kleidete sie meine Schwester an, flocht meine dicken Zöpfe, schickte mich in die Schule, machte die Betten, half in der Küchen beim Kochen und kümmerte sich um die Wäsche. Zu unserem Erstaunen geschah erst einmal gar nichts, Vater und Mutter arbeiten viel, der große Krach schien vergessen. Wir Kinder atmeten auf. Unsere Lebenserfahrungen aus diesem Vorfall in der Familie zeigten: auch große Auseinandersetzungen gehen vorbei, die Alltagsarbeiten fordern ein gemeinsames Handeln und das bewirkte, dass Krisen durch Tätigsein überwunden wurden. Wie es meiner Mutter zumute war und wie sie es "wegsteckte", davon wurde nicht gesprochen. Natürlich wusste die Nachbarschaft, ja das ganze Dorf von diesem Vorkommnis.
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