Wurde ich von einem meiner Mitschüler, die meisten waren über 18 Jahre alt, zum Kino eingeladen, hatte ich ein großes Problem. Die Zeit im Kino verbrachte ich mit Überlegungen, wie ich es umgehen konnte, dass mich der junge Mann nach Hause bringt. Ich schämte mich sehr, dass mein Zuhause eine Baracke war. Also ich suchte mir ein passables Haus aus, sagte, ich wäre nun zuhause und verabschiedete den Begleiter vor einer fremden Haustür. Erst wenn ich nichts mehr von dem jungen Mann sah, schlich ich mich den Berg hoch in meine Barackensiedlung. Ansonsten wurde ich unwillkürlich fleißig in den schulischen Fächern, hatte ich doch keine Ablenkungen anderer Art. In dem einzigen Zimmer mit Ofen in diesem "Behelfsheim" war kein Radio, wir hatten es nicht mitgenommen, Fernsehen gab es zu der Zeit noch nicht. Es blieb mir nichts anderes übrig, als in den Fachbüchern zu lesen. Dieser notgedrungene Fleiß schlug sich in guten Noten nieder. Also, ich hatte fußgefasst, ich fühlte mich sehr wohl unter den ca. 25 jungen Mädchen und jungen Männern. Alle waren wir zwischen 16 und 19 Jahren alt. Die Jungens hatten meistens Abitur abgelegt und waren nicht zum Chemiestudium zugelassen worden, weil die Eltern einen kleinen Laden hatten oder ähnliche Gründe zur Ablehnung führten. Deshalb erlernten sie erst einmal den Beruf eines Chemielaboranten. Im Sommer wurden gemeinsame Radtouren organisiert. Mit geliehenen Fahrrädern besuchten wir Naumburg, Weimar, Bad Kösen, Rudolstadt oder einen Badesee. Ich war sehr glücklich, noch nie in meinem Leben hatte ich so viel Zeit für mich. Niemand von der Familie stand mit Forderungen hinter mir. Ich hatte eine "beste Freundin" und lose Freundschaften mit Mitschülern, die aber nicht aufdringlich waren. Bei einem Ausflug zu den Dornburger Schlössern an einem trüben Bußtag lernte ich meinen späteren Mann kennen.
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