Mit 17 Jahren erlebte ich auch den Aufstand der Arbeiter am 17. Juni 1953 in Jena bewusst mit. An diesem Tag war für uns Lehrlinge Fachunterricht im 5. Stock eines Verwaltungsgebäudes im VEB Schott und Genossen. Der Unterricht begann 7:30 Uhr wie immer. Es war ein sehr schöner Sommertag, die Fenster zum Werkshof standen offen. Keiner von uns Jugendlichen ahnte, dass dieser Tag die ganze DDR erschüttern sollte. Zwischen 9 und 10 Uhr nahmen wir eine große Unruhe und ungewöhnlich lautes Stimmengewirr wahr. Während des Unterrichts ging ein Mitschüler an das Fenster und schaute auf den Hof des Werkgeländes. Alle hielten wir still, der Lehrer unterbrach den Unterricht und fragte, was der Mitschüler am Fenster beobachtet. Nach einer Minute wandte sich der zur Klasse und berichtete, dass da unten offensichtlich eine Versammlung abgehalten wird, auf einem LKW Arbeiter stehen und einer zu den auf dem Werkshof versammelten spricht. Alle waren in Arbeitskleidung, so wie sie an den Schmelzöfen gestanden hatten. Als wir das sahen, wurde uns bewusst, dass etwas Außergewöhnliches im Gang war. Ich ließ mich zu einer Äußerung hinreißen, die bestimmt mein weiteres Leben in der DDR beeinflusst hat. Ebenfalls auf den Hof blickend und die frohen Arbeiter sehend, sagte ich spontan: "Jetzt wird alles anders, der Russe wird wieder dorthin gehen, wo er hergekommen ist; und wir kommen auch wieder nach Hause." Es war eine plötzliche, freudige Erregung, die mich erfasste. Ich hatte nicht überlegt, was ich sagte. Der Fachlehrer sah mich betroffen an. An Unterricht war nicht mehr zu denken. Alle erfasste eine Aufbruchstimmung. Der Lehrer beendete den Unterricht, wir nahmen unsere Schultaschen und machten uns auf den Weg nach Hause. Schon auf dem Werksgelände sahen wir, wie ein geordneter Zug von Arbeitern und jetzt auch Angestellten das Werk verließ und in die Stadtmitte zum Holzmarkt zog. Wir Lehrlinge gingen auf dem Bürgersteig und sahen den Zug arbeitender Menschen. Sie lachten, waren außergewöhnlich fröhlich, aber trotzdem sehr diszipliniert. Ältere Leute kamen uns entgegen, umarmten uns spontan und sagten, dass jetzt alles besser werden wird, dass wir Jungen es schon schaffen werden. So richtig war uns eigentlich nicht bewusst, was dieser Aufbruch der Menschen mitten an einem Arbeitstag bedeuten sollte. Wir hatten keine Ahnung davon, dass in Berlin schon am Vortag gestreikt wurde. Ich auf jeden Fall wusste es nicht, hatten wir doch kein Radio. Jeder, der auf der Straße war, erhoffte sich von dieser Demonstration eine Änderung der Verhältnisse zum Besseren. So eine allgemeine Euphorie habe ich erst wieder im Herbst 1989 in Weimar bei den Dienstagsdemonstrationen erlebt. Es sind Massenerlebnisse, die man nicht vergisst. Das ist auch deshalb so, weil sich jeder der außergewöhnlichen Situation bewusst ist, die einmal Geschichte der Deutschen sein wird. Später werden wir sagen können, wir haben es hautnah miterlebt, wie diese Ereignisse zu Geschichte wurden.
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